Die Sängerin Lena Meyer-Landrut steht offen dazu, dass sie unter Depressionen leidet
Ein Kommentar des Kinder- und Jugendpsychiaters Josef Eduard Kirchner
Sehr geehrte Lena Meyer-Landrut, danke, dass Sie so offen damit umgehen, immer wieder vom Dämon der Depression heimgesucht zu werden! Es wird Sie wenig trösten, dass mittlerweile 10% der erwachsenen Bevölkerung der Bundesrepublik an Depression erkrankt ist, wovon etwa 15% im Suizid (Selbstmord) enden.
Seit es die Zivilisation gibt, kämpfen Heiler und Ärzte darum, ihre Patienten von dieser lebensgefährlichen Erkrankung zu heilen. Leider nur mit mäßigem Erfolg. Mit Medikamenten und verschiedensten Therapien von Psychotherapie bis Elektrokrampfbehandlung versuchen wir Heiler das Leben wieder erträglich zu machen. Oft kommt es glücklicherweise zur Heilung, oft verläuft die Erkrankung schubförmig, wie bei Vincent van Gogh, einem berühmten Künstler, der wohl am 29. Juli 1890 mit einem Schuss in die Brust seinem Leiden ein Ende setzte.
Bis heute weiß niemand, wie die Erkrankung zu erklären ist. Jeder Mensch kann von Depression befallen werden. Oft werden Lebensereignisse als Ursache gedeutet, aber die Resilienzforschung zeigt, dass schwerwiegende Einschnitte im Leben die einen in die schwarze Hölle der Verzweiflung wirft und andere wenig Beeinträchtigung ihrer seelischen Gesundheit davontragen.
Stoffwechselveränderungen und Botenstoffe im Gehirn werden in Betracht gezogen, aber auch die lang bevorzugte Serotonin-Mangel-Vermutung hat sich als nicht tragfähig erwiesen. Genetik scheint eine Rolle zu spielen, hat aber nur den Rang einer Einflussgröße. So bleiben wir auf der Suche nach der Ursache ohne Erfolg.
Ich fürchte, Sie mussten sich auch schon die Frage gefallen lassen, wie es denn sein kann, dass eine so fröhliche, erfolgreiche und intelligente Frau, wie Sie, das Gefühl erleiden muss, wertlos zu sein, nie wieder glücklich sein zu können und in ganz schwarzen Momenten mit dem Gedanken zu spielen, diesem Leid ein Ende zu setzen, bevor es noch schlimmer wird. Vorsicht! Das ist das schwarze Gift der Depression, das uns umbringen kann. Jede Depression geht irgendwann vorbei. Die Frage ist nur wie lange sie dauert. Es können drei Tage, drei Wochen, drei Monate oder viel mehr sein. Entscheidend ist, diese Zeit möglichst unverletzt zu überleben.
Der zeitgenössische Nervenarzt Hubert Tellenbach, geboren 1914, gestorben 1994, hat sich ausführlich mit der Daseinsanalyse nach Ludwig Binswanger und anderen auseinandergesetzt. Als junger Assistenzarzt hatte ich das Vergnügen, bei ihm ein Seminar zu besuchen. Er sagte dort: „Wenn Sigmund Freud und Karl Marx sich als Zeitgenossen kennengelernt hätten, wäre “Das Kapital“ nie geschrieben worden“. Er meinte damit, dass Karl Marx ein edles Menschenbild mit hohen ethischen Prinzipien postulierte, Sigmund Freud aber über die schwarzen Abgründe des „Es“ geforscht und die Bestie in uns allen gefunden hatte.
In dem Buch „Melancholie“ (Springer Verlag) stellt Tellenbach das Konzept des „Typus melancholicus“ vor. Die vier Hauptmerkmale sind: Perfektionismus, also der Wunsch immer alles ganz richtig zu machen, Konfliktscheue, empfundener Mangel an Anerkennung durch die Umgebung und das Gefühl, selbst daran schuld zu sein, dass es so ist. Auf den ersten Blick erscheint es zu einfach erklärt, auf den zweiten Blick ergeben sich aber gute therapeutische Perspektiven.
Ich arbeite in meinen Therapien bei Depressiven mit diesem Konzept und bin anfangs oft erstaunt gewesen, dass trotz aller individuellen Besonderheiten jedes einzelnen Patienten, diese Aspekte zentrale Themen der Persönlichkeitsentwicklung in der therapeutischen Arbeit sind. Einschränkend muss ich hinzufügen, dass diese tiefenpsychologischen Gesichtspunkte in der Arbeit mit akut und schwer erkrankten Mitmenschen nicht schnell genug erfolgreich sind und eine akute Depression zunächst auch medikamentös gelindert werden muss, um dann in der längerfristigen Therapie diese Entwicklungen der Persönlichkeitsstruktur möglich zu machen.
In der Praxis sieht das dann so aus, dass ich im Gespräch deutlich mache, wo Perfektion überhaupt möglich ist. Ein guter Uhrmacher kann ein perfektes Uhrwerk schaffen. Alle Teile sind messbar, berechenbar und kontrollierbar. Im Alltag können wir unseren Einkauf perfektionieren, indem wir vorher herausfinden ob die Dose Ravioli am günstigsten bei Aldi, Norma oder Lidl ist. Aber schon beim Pulloverkauf wird die Frage nach dem perfekten Pullover kompliziert.
Wie unendlich viel schwieriger ist die Frage nach der perfekten Partnerschaft mit Mr. oder Miss Right? Ich würde sagen unlösbar. Aber wie viel Unglück in dieser Welt entsteht durch das traurige Erkennen, dass die große Liebe, die man anfangs empfand, verlischt und man sich die Frage stellt, was man falsch gemacht hat. Es ist ja sinnvoll, Rückschau zu halten und die Frage zu erwägen, ob man die Beziehung vielleicht zu eng und kontrollierend, also toxisch gestaltet hat, aber irgendwann muss man an den Schlusspunkt der Selbstreflektion kommen und die Vergangenheit ruhen lassen, sonst gerät man in die Teufelskreise der sinnlosen Grübelei.
Es gibt keine perfekte Partnerschaft im wirklichen Leben. Der Film „Pretty woman“ ist eine Erfindung Hollywoods genau wie „Basic instincts“, um nur zwei Beispiele für Männer- und Frauenträume zu benennen. Das Beste, was man in der Partnerschaft auf Dauer finden kann, ist Zufriedenheit -keine rosa Einhörner-. Ebenso ist es mit der Familie. Das perfekte Familienleben sehen wir immer in der „Kellog’s-, Rama-, Wüstenrot-Reklame“, die Wirklichkeit ist: Wo nichts ist, da wohnt auch keiner.
André Kostolany, der berühmte Börsenguru der 90er Jahre sagte einmal sinngemäß, er verstehe die Aufregung nicht, die um seine Person gemacht wird. Nur weil bei seinen einhundert Spekulationen 49 schief gehen und 51 gelingen, halte man ihn für einen Wahrsager. In den Biographien fast aller berühmter Manager finden sich Bemerkungen, dass sie als gepriesene Erfolgsmenschen bestenfalls drei Viertel richtig und nur ein Viertel falsch gemacht haben. Mehr ist wohl nicht möglich. Perfektion im realen Leben endet bei der 75%-Marke und nicht bei 110%!
In den letzten Jahren kursiert der Begriff „people pleaser“ durch die Zeitschriften. Das sind Menschen, die es immer allen recht machen und mit allen in Harmonie leben wollen. Schon länger kann man in den Studien der Psychologie sehen, dass people pleaser ein extrem hohes Risiko für depressive Erkrankungen haben. Wer soviel Kontur wie ein Badeschwamm zeigt, wird als Mensch nicht wahrgenommen. Früher kannte man schon Menschen mit einem „Helfer-Syndrom“, also Menschen die versuchen ihr eigenes Unglücklichsein dadurch zu verringern, dass sie andere glücklich machen. Es gibt keine Zahlen hierzu, aber ich fürchte der Suizid hat unter ihnen reiche Ernte eingefahren.
Konfliktfreiheit ist also kein gangbarer Weg in eine bessere Welt. Leider hat sich in unserer postachtundsechziger Gesellschaft die Illusion der Friedfertigkeit breit gemacht. Aus meiner Jugend kenne ich noch die Parolen wie „Schwerter zu Pflugscharen“ oder „stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ der Gipfel war dann „all you need is love“. Welch grausamer Zynismus, dass John Lennon, der diese Hoffnung geprägt hat, später sinnlos erschossen wurde. Der Traum, dass alle Menschen Brüder werden, ist ausgeträumt. Konflikte müssen geführt werden, müssen allerdings im privaten Bereich streng gewaltfrei sein.
In jeder Lebensgemeinschaft, ob Ursprungsfamilie oder Lebenspartnerschaft entstehen Konflikte. Gut beraten sind diejenigen, die frühzeitig Konfliktthemen ansprechen, um sie konstruktiv zu lösen und nicht tagelang die Faust in der Tasche machen, bis ihnen der Kragen platzt. Dann ist eine positive konstruktive Verbesserung nicht mehr möglich, sondern dann geraten zwei Schreihälse aneinander, die nur noch ihren angestauten Frust dem anderen ins Gesicht brüllen. Wie jämmerlich!
Undank ist der Welten Lohn. Eine alte Volksweisheit, die leider in Vergessenheit geraten ist. Wir können in dieser Welt noch so viel Gutes tun, wir werden nicht erleben, dass unsere Umgebung mit standing ovations auf dem roten Teppich reagiert. Es wird auch keine Zauberfee in unser Zimmer fliegen und uns drei Wünsche anbieten.
Die Religion (Übersetzung aus Latein: Rücksicht, Besorgnis, Bedenken) verspricht uns, im Himmel von Gott für gute Taten belohnt zu werden. Irgendwo zwischen Engelchen mit Harfe, die Halleluja singen und 42 Jungfrauen bewegen sich die Prognosen. Auch eine Verbesserung des Karma mit Näherrücken an das Nirwana erscheint vielen erstrebenswert. Leider steht aber immer in den „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ der Religionen: Delivery after death. Pay now – see later! Unser Vertrauen in die ewige Glückseligkeit ist nicht mehr stark genug, dieses irdische Jammertal unbeschadet zu überstehen. Deshalb verliert die Kirche immer mehr ihre Macht über uns und das ist gut so!
Letztlich landen wir bei dem bayerischen Motto: „nix g’sagt is g’nug g’lobt“. Wer sich damit nicht anfreundet, hat es schwer in dieser Welt und schafft sich als Ausgleich einen Hund an. Der freut sich immer, wenn man nach Hause kommt und liebt einen völlig selbstlos. Oder liegt es daran, dass wir den Kühlschrank und die Hundefutterdose öffnen können und er nicht? Wer weiß.
Rituale und rituelle Darstellungen gibt es seit der frühen Steinzeit. Schon sehr früh hofften wir Menschen, dass unser Jagderfolg auf Wisente und andere essbare Großtiere verbessert würde, wenn mittels Zeichnungen in Steinzeitwohnhöhlen die Götter besänftigt würden. Wir waren die Verursacher ihres Zornes, weil wir auf der Jagd getötet hatten um zu Überleben. Diese Mystik ist ungefähr 40.000 Jahre alt. Leider heißt das im Umkehrschluss dieser Mystik, dass alles Unschöne und alle Schicksalsschläge uns treffen, weil wir etwas falsch gemacht oder übersehen haben. Wir suchen also die Schuld bei uns selbst.
Mir geht bei derartigen Selbstvorwürfen durch den Kopf: Es ist doch eine Selbsterhöhung in einem egozentrischen Weltbild, wenn wir immer glauben, wir sind es schuld, wenn in China mal wieder ein Sack Reis umfällt. Wenn ein Kettenraucher mit Mitte vierzig an Lungenkrebs stirbt, klingt es ja plausibel, wenn aber, wie ich es im Bekanntenkreis gesehen habe, jemand, der immer sportlich war, sich gesund ernährt hat, nicht geraucht, nicht getrunken hat mit Mitte vierzig an Leberkrebs stirbt, kann man nur sagen, er hatte das nicht verdient.
Zusammengefasst kommen wir zu der Feststellung, dass die Frage, ob man Glück oder Unglück im Leben hat, zwar in der Wahrscheinlichkeit beeinflusst werden kann, aber auch die besten Menschen keinen Garantieschein kriegen. Mahatma Gandhi, Martin Luther King, John F. Kennedy und John Lennon wollten friedlich die Welt verbessern und sind erschossen worden. Adolf Hitler hat zwölf Attentate unverletzt überlebt. Das Schicksal ist ein Zyniker.
Lena Meyer-Landrut sollte eine stolze, aggressive Egoistin werden
Frau Lena Meyer-Landrut ich kann Ihnen eine Zielsetzung mitgeben, die ich vielen meiner Patienten mitgegeben habe. Werden Sie eine stolze, aggressive Egoistin, aber keine arrogante, gewalttätige Ausbeuterin. Wichtige Anmerkung: Aggression und aggressiv stammt aus dem Lateinischen und bedeutet: angreifen, darangehen, herangehen oder beginnen. Es ist also etwas anderes als Gewalt, wenn man Aggression zeigt.
Wer stolz auf sich ist muss natürlich fürchten in die Nazi-Ecke geschoben zu werden, die diesen Begriff in extremer Perversion genutzt haben. Eigentlich bedeutet stolz auf sich zu sein, dass man sich, so wie man ist, als das Beste auf der Welt sieht. Genau das ist doch mit dem christlichen Gebot gemeint: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst!“. Arrogant zu sein bedeutet, sich für etwas besseres als die anderen zu halten. Das ist klein und erbärmlich. Sie sind nicht besser als andere, Sie sind die beste, die Sie sein können. Und das ist gut so!
Josef Kirchner